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 Das menschliche Gewissen

Die Schuldreaktion des psychisch Gesunden

Das natürliche schlechte Gewissen und seine Abwehr durch den Straftäter und die Gesellschaft

von

Rudi Zimmerman

Zusammenfassung

Ich postuliere eine „natürliche Schuldreaktion“ des psychisch gesunden Menschen und belege dies durch den Lebenslauf eines Kriegsverbrechers. Begeht der Mensch Gräueltaten, folgt reaktiv ein schlechtes Gewissen, ein Schuldgefühl: der Täter erinnert sich an die Qualen der Opfer, hört ihre Schreie und leidet unter Verfolgungsängsten. Der Mensch hat einige ererbte Gefühlsqualitäten, wie Hunger, Glücksgefühl und Angst, die durch physikalisch-chemische Veränderungen erzeugt werden, wenn geeignete innere oder äußere Rezeptoren dem Hirn entsprechende Situation melden. Zu diesen Gefühlsqualitäten gehört auch das Schuldgefühl, das bei Handlungen ausgelöst wird, die artschädigend sind. Hierzu gehört insbesondere die Tötung des Artgenossen, egal welcher Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit. Bei Tieren ist die Beißhemmung bekannt, die das im Konkurrenzkampf siegende Tier hindert, den Artgenossen zu töten. Der Mensch kann angeborenes reflexhaftes Verhalten zwar unterdrücken und gegen seine Natur handeln. In diesem Fall tritt dann allerdings Schuldgefühl auf. Das hier angeregte Umdenken wirft ein neues Licht auf die Entstehung von Religion und Zivilisation, auf die psychoanalytisch ungeklärte Umwandlung von Angst in Schuldgefühl (Ödipuskomplex) und auf die psychischen Folgen von Kriegshandlungen auf den gesunden Soldaten. Meine Theorie widerspricht der allgemein anerkannten Vorstellung, dass das Schuldgefühl gesellschaftlich anerzogen ist.


 

1. Die bisher nicht beschriebene Schuldreaktion des psychisch gesunden Straftäters

In der westlichen Wissenschaft herrscht Konsens über die Theorie, dass die Entwicklung von Zivilisation Folge einer Triebeinschränkung ist. Schon der Philosoph Thomas Hobbes (1651) beschrieb den Menschen im "Urzustand" als wildes Tier, das zügellos seine (sexuellen und aggressiven) Triebe auslebte und diese erst durch die Strafandrohung eines herrschenden Regimes zügeln lernte. Die Idee als solche ist bereits bedeutend älter, "homo homini lupus" sagte bereits der Komödiendichter Plautius (ca. 200 v.Chr.). Auch die Psychoanalyse bestätigt diese Hypothese. Freud betrachtete das im Über-Ich verankerte Gewissen als direktes Erbe des Ödipuskomplexes (Freud 1924, S. 351). Triebbeherrschung wird hiernach lediglich als Folge der Strafandrohung der Erzieher (der Kastrationsdrohung des Vaters) angesehen, was Reik, Alexander und Staub übernahmen, die sich als Psychoanalytiker speziell mit dem Strafrecht beschäftigten. Letztere meinten, der Mensch komme als kriminelles Wesen auf die Welt (Alexander und Staub 1928, S. 232) und Triebverzicht werde nur aus Angst vor Vergeltung geleistet (1928, S. 242). Reik bezeichnet die Angst, vom Vater gefressen zu werden, als den "Kern der Gewissensangst, der späteren Angst des Ichs vor dem Über-Ich." (Reik 1925, S.109). Allerdings spricht Reik auch vom Unbewussten, das seine seine eigenen Gesetze aus der "Kindheit der Menschheit" übernommen habe (S. 129), was auf den Mitschöpfer der Anthropologie, Lewis H. Morgan verweist, dessen Theorie über diese "Kindheit der Menschheit" (Morgan 1891), die eine kannibalistische Entwickungsphase einschließt, was auch von Friedrich Engels übernommen wurde (Engels 1884). Auch aktuelle soziologische Zivilisationstheorien (besonders Norbert Elias, 1939) zeigen für die Kulturentwicklung der Neuzeit auf, dass zunächst aufgrund gesellschaftlicher Umstände eine Triebeinschränkung erzwungen wurde, die sekundär zur Entwicklung von Kultur führte.

Dieser wissenschaftliche Konsens wird jedoch bereits von der Tatsache der endogenen Depression in Frage gestellt. Die Erforschung ihrer biochemischen Grundlage zeigt, dass schlechtes Gewissen, Schuldgefühl und Strafbedürfnis biochemisch durch Körperfehlfunktionen hervorgerufen werden können (z.B. Serotoninmangel). Das würde bedeuten, dass primär eine genetisch-chemische Bereitschaft für ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühl vorhanden wären und gesellschaftliche Strafmaßnahmen sich ein biologisch präformiertes Gefühl zu nutze machen, um Triebunterdrückung zu erreichen und aufrecht zu erhalten. Zweitens müsste, wenn die Theorie der primären Triebunterdrückung und sekundären Entwicklung von Schuldgefühlen, Ritualen und Religion richtig wäre, das schlechte Gewissen eines Straftäters abhängig sein von dem Ausmaß der triebeinschränkender Maßnahmen des Vaters (der Erziehungspersonen) oder strafender gesellschaftlicher Maßnahmen. Danach dürfte nur Mörder in Friedenszeiten ein schlechtes Gewissen haben, nicht jedoch der Soldat, der mit Genehmigung des Staats Mitmenschen anderer Staatsangehörigkeit tötet. Die Philosophie lebender Systeme (=PhilS) vertritt die Gegentheorie, dass nämlich schlechtes Gewissen und Schuldgefühle eine natürliche physiologische Tatfolge beim psychisch gesunden Menschen sind, der einen Mitmenschen getötet hat und völlig unabhängig davon auftritt, ob der Täter in seiner Kindheit eine besonders strenge, triebeinschränkende Erziehung genossen hat oder staatliche Sanktionen zu befürchten hat.

Diese Theorie eines natürlichen Gewissens, das angeboren und nicht anerzogen ist, wirft auch ein neues Licht auf die Entwicklung des Urmenschen zum Kulturmenschen. Wäre nämlich das schlechte Gewissen eine natürliche Reaktion auf die Begehung grausamer Taten, dann wäre die Entwicklung von Religion und Kultur eine natürliche Folge des Kannibalismus in der "Kindheit der Menschheit" und nicht Ergebnis einer Triebbeherrschung aufgrund von Strafandrohungen, wie Sigmund Freud, die Philosophie vor ihm und die Soziologie nach ihm annehmen. Staatliches Gewaltmonopol und Religion werden offiziell damit begründet, dass der Mensch Strafandrohungen benötigt, um sich in eine Gesellschaft einzuordnen. Ohne diese Strafandrohungen würde der Mensch seinen egoistischen Impulsen freien Lauf lassen. Dieser Theorie widerspricht de PhilS und meint, der Mensch war bereits in seinem Urzustand, in der "Kindheit der Menschheit" ein gesellschaftliches Wesen und verdankt dies dem natürlichen Schuldgefühl, das auftritt, wenn das Individuum gemeinschaftsschädlich handelt. Gemeinschaftsschädliches Handeln ist danach nicht normal, sondern der Ausnahmefall bei gefühlsgestörten Individuen.

2.
Die evolutionär-anthropologische Ebene.

2.1.
Die evolutionäre Herkunft der Schuldreaktion

Wird eine Gefühlsreaktion, wie hier das schlechte Gewissen, als normal bzw. gesund bezeichnet, muss diese Reaktion aus der Evolution ableitbar sein, also bereits im Tierreich vorkommen und dort einen Überlebensvorteil haben.

Bei Tötungshandlungen kann man bereits im Tierreich im Rivalenkampf eine Beißhemmung beobachten, die das überlegene Tier reflektorisch an der Tötung des unterlegenen Rivalen hindert, wenn dieser seine Kehle zum Biss darbietet. Dies ist eine Erkenntnis der Tierverhaltensforschung (Konrad Lorenz). Es hat zwar biologische Vorteile, wenn das stärkere Tier seine Gene durch den Geschlechtsakt, der dem Rivalenkampf folgt, vermehrt, aber es hat auch Vorteile für die Art, wenn das unterlegene Tier weiterhin einen Nutzen innerhalb einer Gemeinschaft erfüllen kann, vielleicht ist es geschickter im Bau von Verteidigungsanlagen oder hat einen besseren Geruchssinn zur Früherkennung von Feinden usw.. Bestimmte Fähigkeiten des im Rivalenkampf unterlegenen Tieres können für die Erhaltung der Art nützlich sein und insbesondere einen Selektionsvorteil für die Gruppe haben, der das Individuum angehört, das im Rivalenkampf unterlegen war. Die Evolutionstheorien stellen bisher die Selektionsvorteile für das Indibiduum in den Vordergrund, die PhilS hingegen erkennt auch Vorteile für die Gruppe bei der Durchsetzung gegen konkurrierende Gruppen als Selektionsfaktor an. Der evolutionäre Vorteil dieser Beißhemmung und des sozialen Verhaltens im Tierreich betrifft jedoch das Kollektiv und nicht das Individuum. Das besser zusammenarbeitende Kollektiv, sei es eine Tierart oder eine Gruppe von Menschen oder Frühmenschen setzt sich im Überlebenskampf der Natur gegen Nahrungskonkurrenten durch. Das ist nach Ansicht der PhilS auch der Grund, warum sich Sprache durchgesetzt hat. Die Sprache mit ihrer hirninternen Speicherung von Begriffen als Kommunikationsmittel zur Koordinierung der Handlungen des Kollektivs hat für die besser kommunizierende Gruppe einen Überlebensvorteil und entwickelt sich daher ebenso evolutionär fort wie genetisch gespeicherte Daten. Die "Natur" selektiert die besser denkende und sprechende Gruppe, das "fittere" Kollektiv.

Um die Beißhemmung  oder allgemein die Schonung des Artgenossen  wirksam werden zu lassen, muss die Natur auch "Strafen" für den Fall der Nichteinhaltung vorgesehen haben. Und diese "Strafe" bestände hier nicht in einem körperlichen Schmerz (wie bei drohender körperlicher Schädigung durch Hitze), sondern in einem seelischen Schmerz, der sich beim Menschen als Schuldgefühl oder schlechtes Gewissen zeigt, wenn er den Artgenossen, nämlich den "Bruder" schadet, ihn tötet. Dieses Schuldgefühl ist also primär als Reflex auf die Übertretung der Beißhemmung vorhanden und nicht durch Erziehung erlernt. Ich postuliere also eine natürliche Hemmung des Individuums, einen Mitmenschen zu töten. Der Mensch ist jedoch mehr noch als das Tier in der Lage, reflektorisch auftretende Handlungsimpulse oder Hemmeflexe zu unterdrücken. Das Recht hat dies erkannt und begründet damit den freien Willen als Voraussetzung des Strafrechts. Diese Hemmungsmöglichkeit betrifft nun auch die Beißhemmung, die natürliche Hemmung, den Artgenossen zu töten. Da alle Menschen einer Art angehören, würde dieser Reflex bei Übertreten der Beißhemmung bei der Tötung jedes Mitmenschen auftreten, unabhängig von dessen Staatszugehörigkeit, Ethnie oder Religion.

Durch Erziehung können derartige normale Gefühle mit Handlungen verknüpft werden, die gesellschaftlich nicht gewollt sind, wie zu Freunds Zeiten die Onanie oder mit anderen einer gesellschaftlichen "Zensur" unterliegenden Verhaltensweisen. Diesen Mechanismus hat Pawlow bereits mit seinem "bedingten" Reflex gezeigt, bei dem das Hungergefühl, gemessen am Speichelfluss des Hundes, an Stelle durch Futterangebot mit einem Klingelton verknüpft und später durch diesen ausgelöst wird. Bestimmte Gefühlsreaktionen, wie Angst, sexuelle Lust oder auch Schuldgefühl, sind ebenfalls evolutionäres Erbe. Auch sie können durch Übung und Lernprozesse gesellschaftlich gewollten Bedingungen verknüpft werden und dann durch diese ausgelöst werden. Das Schuldgefühl gehört also in eine Gruppe von Gefühlen, die in der Evolution in bestimmten Situationen einen Überlebensvorteil hatten. Durch Lernprozesse (Übung) können diese Situationen durch zwar durch gesellschaftlich gewollte Auslöser ersetzt werden, es können jedoch keine neuen Gefühlsqualitäten durch Lernprozesse erzeugt werden.

Im Ergebnis bedeutet dies, dass die Schuldreaktion des Gesunden dann auftritt, wenn der Mensch seiner angeborenen Beißhemmung (Tötungshemmung dem Artgenossen gegenüber) zuwiderhandelt und einen Artgenossen tötet. Und der historische gesellschaftliche Lernprozess besteht darin, diese natürliche Tötungshemmung nur bei Angehörigen der eigenen Staats- oder Religionsangehörigkeit zuzulassen und gegenüber sogenannten Feinden, die natürlich der eigenen Art angehören, zu unterdrücken und diese im Krieg zu töten, möglichst ohne dass das dabei von der Natur dafür vorgesehene Schuldgefühl auftritt.

2.2.
Die Unterlassung des Brudermords und die Vermeidung von Schuldgefühl als Beginn des Denkens und der Zivilisation

Die Entwicklung der Zivilisation (Ackerbau und Viehzucht) wird von der PhilS daher als eine kollektive Vorverlagerung der Abwehr dieser physiologischen Schuldreaktion interpretiert. Anstatt in Zeiten von Nahrungsnot in der "Kindheit der Menschheit" einen Artgenossen zu töten und kannibalistisch zu verspeisen, kann dem vorgebeugt werden durch die Einführung von Viehzucht und Ackerbau. Durch die Verbesserung des Nahrungsangebots konnten mehr Menschen ernährt werden, so dass Brudermord und nachfolgende Schuldreaktion durch den zivilisatorischen Fortschritt vermieden wurden.

Die Entwicklung von Viehzucht und Ackerbau lässt sich also zwanglos als Ergebnis der Beißhemmung bzw. des schlechten Gewissens bei Schädigung des Artgenossen einer konkurrierenden Gruppe verstehen. Der Konflikt zwischen Hunger und Beißhemmung (bezogen auf den Artgenossen) führt also anthropologisch (ethnologisch) zu der Überlegung, wie der Brudermord vermieden werden kann und führt zur Lösung des Konflikts durch Steigerung und Sicherung des Nahrungsangebots mittels Vorsorge, wie Schonung von Jungtieren und deren Züchtung anstelle der Jagd und Nichtverzehr eines Teils des Sammelergebnisses und Nutzung der Samen für Ackerbau. Einerseits der Überlebensimpuls und damit Mordimpuls, andererseits die Tötungshemmung gegenüber dem Artgenossen fördern im Ergebnis die Denktätigkeit des Menschen und das Finden einer Lösung, die im Betreiben von Viehzucht und Ackerbau besteht. Damit wird das unangenehme Schuldgefühl vermieden, das nach der Tötung des Artgenossen und seiner kannibalistischen Verspeisung verbleiben würde.

2.3.
Die kollektive Abwehr von Schuldgefühlen:
Religionen und weltliche Ideologien sowie andere Abwehrmechanismen

Sigmund Freud hat die Entstehung von Ritualen und Religionen mit dem Vatermord der Bruderhorde erklärt: im Aufbegehren gegen das Verbot des Vaters, mit ihren Müttern geschlechtlich zu verkehren, ermordete die Bruderhorde den Vater, verspeiste ihn und bekam anschließend ein schlechtes Gewissen. Es wurde versucht, diese Tat durch Rituale ungeschehen zu machen. Schließlich entwickelten sich aus diesen Ritualen die Religionen.

Dies ist lediglich eine Projektion der Ödipustheorie auf die Vorgeschichte der Menschheit, die jedoch überhaupt nicht erklärt, warum die Bruderhorde ein Schuldgefühl gehabt haben sollte. Die Ermordung und Verspeisung eines derartigen Tyrannen wäre ein Befreiungakt, der zu Glücksgefühlen führen sollte und nicht zu einem schlechten Gewissen. Das hat Freud offensichtlich übersehen. Die Tötung und Verspeisung des Artgenossen hingegen hinterlässt ein natürliches Schuldgefühl, das unangenehm ist und abgewehrt wird (Abwehr = Fernhalten einer Wahrnehmung, eines Wissens oder eines Gefühls vom Zugang zum Bewusstsein). Rituale und im weiteren Entwicklungsverlauf Religionen diesen dieser Abwehr des schlechten Gewissens, der Abwehr des physiologischen Schuldgefühls. Indem ein Gott als transzendentes Wesen, das die Schuld verzeihen kann, erfunden wird, und im Namen dieses höheren Wesens gemordet wird, kann der Täter sich suggerieren, mit seinen Morden ein gutes Werk zu tun und auf Verzeihung durch diesen Gott hoffen. "Ideologisierung" ist ein Abwehrmechanismus, der aus der Sicht der Psychoanalyse allgemein der Abwehr von Minderwertigkeitsgefühl (Adler 1928) dient. Beispielweise macht der sexuell Gehemmte aus der Not eine Tugend, indem er er sexuelle Hemmung als Beweis besonderer Größe betrachtet; sein Zöllibat erhebt den Mönch zu einem besseren Menschen. Kollektiv lässt sich leicht belegen, dass der zukünftige Kriegsgegner, also das ins Auge gefasste Opfer von Brudermorden im biologischen Sinn, stets durch Propaganda herabgesetzt oder zum Untermenschen stilisiert wird und die eigene Staatszugehörigkeit oder Religionszugehörigkeit als besserwertig dargestellt wird. Diese Methode der Herabwürdigung Andersdenkender ist ein vorgelagerter Abwehrmechanismus gegen die zu erwartende physiologische Schuldreaktion der Soldaten, die die Tötungen der Kriegsgegner vornehmen sollen. Im Rahmen dieser vorgezogenen Abwehr des Schuldgefühls werden die Religionen oder auch weltanschauliche Ideologien benutzt, um das zu erwartende Schuldgefühl der Tatausführenden zu verringern, ihn tötungsbereit zu machen.

Nur leider oder zum Glück machen die Religionen und weltanschaulichen Ideologien die Rechnung ohne den Wirt, nämlich die Natur. Diese hat für den Mord am Artgenossen ein schlechtes Gewissen vorgesehen, und dieses Gefühl lässt sich nicht so leicht verdrängen, wie die jeweilige Gemeinschaft es hofft. Daher greift der Mensch zu anderen Lösungen. Eine Lösung wäre die bereits geschilderte Entwicklung von Viehzucht und Ackerbau, die den Brudermord vermeidet, zu weiteren komme ich nun.

Richtig erkannt hat Freud verschiedene Methoden des Menschen, sich seines Schuldgefühls zu entledigen, dieses abzuwehren oder ins Unbewusste zu verdrängen. Die kollektive Abwehr durch Erfindung der Religionen (Ideologisierung) habe ich gerade erwähnt und möchte noch die sogenannte "Projektion" der Schuld auf das zukünftige Opfer (den Kriegsgegner) als weitere Methode der vorverlagerten Abwehr von natürlichen Schuldgefühlen hinzufügen. Der eigene Wunsch nach Vergrößerung der Herrschaft über ein den Zugang zu Energien wird auf das zukünftige Opfer projiziert, dieser habe die Absicht anzugreifen und sich auszubreiten. Im Grunde hat selbstverständlich jedes lebende System höherer Ordnung, also jeder Staat, den Wunsch nach Vergrößerung. Die PhilS beschreibt dies als Selbstentfaltung, man könnte es beim Individuum auch Selbstverwirklichung nennen. Jede Vergrößerung ist letztlich mit einem höheren Bedarf an Energie verbunden, und in kriegerischen Auseinandersetzungen geht es im Grunde immer um die Befriedigung des ständig steigenden Energiebedarfs, der durch Handel nicht mehr gesichert werden kann. Die eigene Vergrößerungstendenz wird verdrängt und auf das zukünftige Opfer projiziert und diesem aggressive Gelüste unterstellt, gegen die man sich verteidigen muss. Dies ist jedoch eine taktische Frage, die propagandistisch gelöst wird und hier nicht vertieft zu werden braucht.

Daher komme ich auf die Funktion der Fernwaffen.

Der bewusste zivilisatorische Grund für die Entwicklung von Fernwaffen war nicht die Kriegsabsicht, sondern die Sicherung der Ernährung, wobei hier nicht die kannibalistische Ernährung, die in Urzeiten in Hugersituationen denkbar war (Morgan 1877) und anthropologisch angenommen wird, gemeint ist, sondern selbstverständlich die Energieersparnis bei der Jagd nach Tiernahrung. Die Jagd ist ein sehr stark energieverbrauchender Vorgang und kann tödlich enden, wenn der Energiegewinn durch die Verspeisung der Beute geringer ist als der Energieverbrauch durch den Muskeltätigkeit bei der Jagd, oder wenn der Jadgerfolg gar ausbleibt, weil das Beutetier schneller oder intelligenter war. Das weiß bereits jeder Löwe, der einem Gnu hinterherrennt. Die Energieersparnis als Grund für die zivilisatorische Entwicklung des Menschen hat bereits Wilhelm Ostwald, der Begründer der Biochemie, hervorgehoben (Ostwald 1909). Der Mensch spart Energie, wenn er ein Tier mittels eines Speers erlegt, anstatt ihm hinterherzurennen, die Schusswaffe verringert diesen Energieaufwand weiterhin usw.. Bei technischen Entwicklungen geht es also in erster Linie um die Lösung des Problems, mit weniger Energieaufwand ein größeres Jagdergebnis zu erreichen. Es geht bei der Waffenentwicklung also um die bessere Sicherung der Ernährung, um das Überleben. Dass das Ziel in immer größerer Entfernung getroffen werden kann, ist ein Nebeneffekt. Und es ist natürlich ein Nebeneffekt, dass anstelle der Tiernahrung bei Hungersnöten in der Urzeit des Menschen auch ein anderer Mensch (des Nachbarstammes) als Ziel in Betracht kam. Das damit einsetzende schlechte Gewissen versuchte der Urmensch einersets mittels Ritualen zu bekämpfen, andererseits bestand die Lösung wie gezeigt in Ackerbau und Viehzucht. Grausame Taten gegen den Artgenossen (Mitmenschen), die nach meiner Hypothese natürlicherweise zu Schuldgefühlen führen, wurden schon immer im Krieg begangen. Der Schuldreflex bzw. die Schuldreaktion, bei der es sich um einen Komplex von Gefühlen (Ängsten) und Erinnerungen handelt, stört den direkten Tatausführnden (den Frontsoldaten), weil er sie nach Tötung eines Artgenossen zu erwarten hätte. Die Tötung des Mitmenschen fiele ihm leichter, wenn er den Sterbenden und seine Qualen nicht sähe.

An der Entwicklung der Tötungswerkzeuge und –maschinen im Rahmen der Zivilisation des Menschen lässt sich sehr leicht zeigen, dass die realen Qualen der Opfer immer weiter aus dem Blickfeld und dem Hörbereich des Täters entschwinden, das wäre eine Vorverlagerung der Schuldabwehr. Bereits der Speer vergrößert die Distanz zwischen Täter und Opfer erheblich, der mit Hilfe eines Bogens abgeschossene Pfeil vergrößert diese Distanz weiterhin, die Armbrust noch mehr, das Gewehr zusätzlich, die nicht zufällig von den Deutschen im Nationalsozialismus entwickelte Raketentechnik stellt die Vollendung dieser Entwicklung dar, da die Schreie der Opfer und die Ansicht der brennenden Menschen nun vollständig außerhalb des Wahrnehmungsbereichs des Täters liegt. Da der Täter die Folgen seiner Tat real nicht mehr wahrnimmt, ist diese Abwehroperation nahezu perfekt, denn das nicht Wahrgenommene kann selbst das Unbewusste nicht belasten. Was nicht wahrgenommen wurde, kann auch nicht durch Erinnerungen das Wohlbefinden des Täters beeinträchtigen. Es bleibt allerdings ein Wissen um die Tat. Der Täter hat auch ein Interesse, den Erfolg seiner Tat zu kennen. Dafür werden andere technische Produkte entwickelt, die ihm inzwischen die Folgen der Tat in weiter Entfernung über optische Geräte und Satteliten bis auf seinen Bildschirm am heimischen Herd liefern. Die Tat und deren Erfolg sind der Wahrnehmung entfremdet, vor allem die Gefühlsbeteiligung, der Affekt, ist optimal abgewehrt. Die Realität der Qualen menschlicher Opfer kommt lediglich virtuell auf einem Bildschirm zur Wahrnehmung und ist von einem Kunstprodukt (einem "Film") nicht mehr unterscheidbar.

Den gleichen Abwehreffekt hat die menschliche Zivilisation auch bereits vor der Entwicklung der Technik durch eine andere Methode erreicht, nämlich durch die Einführung der militärischen Hierarchie. Die Trennung von befehlsgebenden und befehlsempfangenden Individuen hat psychische Vorteile für beide Seiten. Der Befehlsgeber muss die Tatfolgen nicht persönlich wahrnehmen (=vorverlagerte Abwehr) und der Befehlsempfänger, der vor Ort auf dem Schlachtfeld tätig ist, muss die Befehle nicht verantworten (=Schuldprojektion). Letzteres ist jedoch bei schweren Delikten wenig wirksam, wie die Realität zeigt. Dem Unbewussten ist die tatsächliche Wahrnehmung entscheidend und nicht die psychische Abwehr, die den tötenden Soldaten damit entschuldigt, dass er "nur" Ausführender des Willens der Gemeinschaft sei.

Um dies zu verdeutlichen schildere ich nun eine tatsächliche Lebensgeschichte eines Kriegsteilnehmers aus jüngerer Zeit.

3.
Ein tatsächliches Beispiel von schlechtem Gewissen und Schuldreaktion bei einem psychisch gesunden Kriegsverbrecher

Ein 44-jähriger Deutscher mit Migrationshintergrund leidet an Schuldgefühlen, hört schreiende Frauen und sieht brennende Kinder. Seine Ärzte diagnostizieren eine Depression mit wahnhaftem Denken und behandeln ihn psychotherapeutisch und medikamentös.

Sein Vater war früh verstorben. Seine Mutter gab ihn 5jährig zum Onkel und ging nach Deutschland. Er litt unter diesem Onkel und dessen Söhnen, für die er u.a. die Schuhe putzen musste. Von einer triebunterdrückenden Erziehung erzählte er mir nichts. Er wurde im muslimischen Kulturkreis, in dem er aufwuchs, auch nicht religiös erzogen. Seine Mutter holte ihn nach Berlin, als er die 1. Schulklasse besuchte, die er dann wiederholen musste. Der intelligente Junge erreichte keinen Schulabschluss und eröffnete 18-jährig ein Cafe, mit dem er seinen Lebensunterhalt bestritt. Der sportliche, kräftige junge Mann war aggressiv durchsetzungsfähig und bot den aus einem anderen Land eingewanderten Schutzgelderpressern Paroli. Zur Warnung wurde ihm ein Schuss in den Fuß versetzt. Nach der Heilung verließ er 20-jährig Deutschland und ging in seine europäische Heimat, wo er seinen "Wehrdienst" machte und sofort zum Kriegseinsatz kam. Es herrschte Bürgerkrieg, im Häuserkampf tötete er einige Feinde. Auch an Vergewaltigungen von Frauen beteiligte er sich, dies sei ein Gruppenzwang gewesen. Eines Tages fuhr er mit seiner Einheit in feindliches Gebiet in einem anderen Stadtbezirk, wo die Bewaffneten etwa 100 Personen zusammentrieben. Die Männer der gegnerischen Zivilisten wurden in den nahe gelegenen Wald abgeführt, um dort erschossen zu werden, die zurückgebliebenen Frauen und Kinder wurden bei lebendigem Leib vor Zuschauern angezündet, verbrannt, erschossen und verscharrt. Kurze Zeit darauf desertierte er, besorgte sich einen neuen Pass mit etwas anderem Namen und kehrte nach nicht ganz einem Jahr zurück nach Berlin zu seiner Mutter.

Seit seiner Rückkehr aus dem Bürgerkrieg verfolgen ihn nun Schuldgefühle: er schläft schlecht, die Bilder der brennenden Kinder lassen ihn nicht los, er hört die Schreie der Kinder und der Frauen. Er traut sich nicht aus der Wohung, hat in der Öffentlichkeit Angst, befürchtet überfallen zu werden. Zunächst besorgte er sich sich Drogen. Auch diese halfen ihm wenig. Er eröfffnete zwar eine Videothek und später eine Diskothek, für die er eine Freundin als Geschäftsführerin einsetzte, und verdiente damit und mit dem Handel von Drogen seinen Lebensunterhalt.

Aber seine Verfolgungsängste treten immer wieder auf, er sieht wieder die schreienden Kinder, die er angezündet hat und die Erinnerung an die jammernden Frauen lässt ihn nicht los. Erst 13 Jahre nach seinen Tötungen von Mitmenschen begab er sich in ärztliche Behandlung und wird seit nunmehr 2 Jahren antidepressiv und psychotherapeutisch behandelt. Die Beschwerden und offensicht auch die Einnahme von süchtig machenden beruhigenden Medikamenten zusätzlich zu den von seinen Ärzten verordneten Medikamenten hat sich nicht geändert, lediglich sein Alkoholkonsum hat sich reduziert.

Der gängigen Theorie folgend, dürfte dieser Kriegsteilnehmer gar keine Schuldgefühle und Depressionen haben, denn er konnte mit Erlaubnis seines Vorgesetzten ungehemmt seine sexuellen Wünsche befriedigen, Frauen vergewaltigen, und er konnte ungestraft Kinder verbrennen und erschießen. Diese Taten, die inzwischen 16 Jahre zurück liegen, wurden nie angeklagt und er ihretwegen natürlich auch nicht verurteilt, es wurden ihm also keinerlei gesetzliche Vorwürfe gemacht. Die Taten wurden ihm befohlen, er war für sie nicht verantwortlich. Aber er hat sie wahrgenommen. Sein Schuldgefühl und seine seelischen Beschwerden resultieren offensichtlich nicht aus gesellschaftlichen Vorwürfen oder Strafandrohnugen.

4.
Das Individuum und seine Schuldgefühle

Schwere Verbrechen belasten nach Ansicht der PhilS das natürliche Gewissen des Täters und führen zu Schuldgefühlen und Depressionen, was als "physiologische Schuldreaktion" bezeichnet werden kann. Nach meiner Kenntnis von Straftätern ist das schlechte Gewissen bzw. Schuldgefühl keine Ausnahme, sondern die Regel und der Betreffende versucht im ersten Akt, seine Schuld durch Verdrängung abzuwehren. Er wehrt nicht, wie der Neurotiker, verpönte Triebimpulse und die mit ihnen aufgrund einer Kastrationsdrohung verknüpfte Angst ab, sondern das aus der Schädigung des Mitmenschen resultierende Schuldgefühl. In meiner bisherigen Lebenspraxis habe ich den etwa 2000 Kriminellen, die ich kennengelernt habe, keinen getroffen, dem in seiner Kindheit vom Vater angedroht wurde, er werde ihn kastrieren, wenn er mit seiner Mutter sexuell verkehren würde. Den Eltern der mir bekannten Kriminellen waren die eventuellen sexuelle Wünsche ihrer Kinder völlig gleichgültig und wenn den Eltern etwas gegen den Strich lief, bekamen sie eine Ohrfeige und damit war der Fall erledigt. Die sexuellen Spiele, die sie mit ihren Altersgenossen trieben, wurden ebenfalls nicht verboten, an sich konnten sie alles machen, was sie wollten, weil ihre Eltern sich gar nicht darum kümmerten. In der Regel waren sie verwahrloste Kinder, die keinerlei Triebeinschränkungen durch ihre Eltern zu befürchen hatten und kein schlechtes Gewissen haben mussten, wenn sie Verbotenes taten. Sie müssten sich lediglich vorsehen, um nicht erwischt zu werden.

Unangenehme Gefühle werden gern durch von Freud beschriebene Abwehrvorgänge von der Bewusstwerdung ferngehalten. Der bevorzugte Abwehrmechanismus bei derartigen nicht neurotisch gehemmten, sondern an Triebdurchbrüchen leidenden Tätern ist die Schuldprojektion, was bereits von Staub und Alexander (1928) beschrieben wurde. Dies kenne ich auch bei minder schweren Fällen. Der Täter meint, das Opfer trage die Schuld an seiner Tat, z.B.: meine Mutter provozierte mich, da musste ich zuschlagen. Meine Frau schrieh, da musste ich zudrücken (sie würgen). Ich wurde angegriffen und musste mich verteidigen. Oder ein Dritter trägt die Schuld: mein Mann gibt mir zu wenig Haushaltsgeld, deshalb muss ich stehlen. Oder das Objekt hat Schuld: die Banane lag da so einladend in der Auslage, deshalb musste ich zugreifen. Oder ein Begleitumstand ist schuld: der Alkohol. Derartige Schuldprojektionen sind oft "erfolgreich". Können sie allerdings  aufgrund der Reaktion der Angehörigen  nicht mehr aufrecht erhalten werden, stellen sich psychosomatische Beschwerden ein (z.B. Bluthochdruck, Herzbeschwerden oder Kopfschmerzen) oder Depressionen (Schlafstörungen, trauriger Verstimmung, Konzentrationsstörungen usw.). Eine derartige Symptomatik wird häufig auch dann manifest, wenn die Tat ans "Tageslicht" kommt, wenn beispielsweise ermittelt wird und der Täter eine Bestrafung befürchtet (was hier nicht der Fall war). Treten dann psychosomatische Beschwerden oder eine Depression in Erscheinung, weil die Schuldabwehr nicht mehr ausreicht, werden diese Beschwerden gern – mit Unterstützung der Rechtsanwälte, die dafür da zu sein scheinen – angeführt, um die Verhandlungsfähigkeit in Zweifel zu ziehen.

Den drastischen tatsächlichen Lebenslauf habe ich nun auch deshalb gewählt, weil hier die Gräueltaten persönlich ausgeführt wurden. Dies erfolgte zwar auf Befehl oder als "Gruppenzwang"; der Schuldreaktion des Gesunden ist dies jedoch sozusagen "gleichgültig". Die Abwehroperation des Täters, er habe dies gar nicht gewollt, sondern es sei ihm befohlen worden (Schuldprojektion), gilt nur im ICH, das sich hier auf das Über-Ich berufen kann. Entscheidend ist jedoch die Bewertung des Unbewussten, die biologisch ist und ein genetisches Erbe der Evolution darstellt. Der Täter hat die Tötungshandlungen vollzogen, selbst optisch und akustisch mit seinen Sinnen wahrgenommen und im Gedächtnis gespeichert. Abwehroperationen des ICHs (z.B. Schuldprojektion) können zwar möglicherweise die Bewusstwerdung des schlechten Gewissens verhindern, nicht jedoch das Wissen um die Tat löschen. Dieses verbleibt im Gedächtnis und führt zu Erinnerungen, die spontan auftreten können. Der hier geschildete Täter benutzte auch ein zusätzliches Mittel zur Abwehr von berechtigten Schuldgefühlen, was mir ebenfalls bei harmlosen Kriminellen aufgefallen ist. Bei Frontsoldaten soll Alkohol auch kollektiv prophylaktisch gegeben worden sein, wie mir Kriegsteilnehmer berichteten.

Das religiöse und das weltliche Tötungsverbot mit Strafandrohungen ist nach meiner Erfahrung für den Normalmenschen nicht der Grund, keinen Mitmenschen zu töten. Diese Verbote unterstützen lediglich die angeborene Tötungshemmung. Der Gesetzgeber trägt dem in der BRD auch Rechnung, nämlich indem er die Gewissensentscheidung als Grund für die Verweigerung des Wehrdienstes gelten lässt. Im Krieg wäre es die Aufgabe des Individuums, Mitmenschen anderer Staatsangehörigkeit zu töten. Dass dieser Tötungsakt ein schlechtes Gewissen hinterlässt, wird zwar anerkannt, seltsamer Weise muss der Wehrdienstverweigerer dies jedoch mit religiösen Motiven begründen, so als wenn dieses schlechte Gewissen Folge religiöser Erziehung wäre. Der Normalmensch tötet demnach nach staatlicher Meinung grundsätzlich ohne Gewissensbisse. Aus meiner Sicht ist diese Unterstellung eine Missachtung des gesunden Denkens und Fühlens.

5.
Tiefenpsychologische Folgerungen: Schuldgefühle als Reaktion auf Mordwünsche

Ich habe eingangs bereits darauf hingewiesen, dass auch die Psychoanalyse den Grundsatz der religionsgeprägten Kulturen teilt, dass sich der Mensch im "Naturzustand", der "Kindheit der Menschheitsentwicklung" (Morgan), zunächst ungehemmt verhält und Triebsteuerung das Ergebnis eines Lernvorgangs sei. Triebbeherrschung ist danach die Reaktion auf eine Gewaltandrohung oder Strafandrohung der Gemeinschaft (Gens), der Gesellschaft (staatliche Gesetze), Gottes (religiösen Gebote), oder des Vaters (Kastrationsdrohung). Es ist danach die Angst vor physischem (Körperstrafen, Geldstrafen) oder seelischem Schmerz, die den Menschen zur Einhaltung gesellschaftlicher Umgangsnormen bewegt. Es bleibt auch bei der psychoanalytischen Betrachtungsweise allerdings völlig unklar, wie sich Angst (Schmerzvermeidung) in ein schlechtes Gewissen oder ein Schuldgefühl verwandeln soll. Geständnisse, die unter Folter, wie im Mittelalter oder in Abu Graib, erlangt werden, haben selbst gerichtlich keinen Bestand, weil das Individuum zur Schmerzvermeidung alles sagt, was der Folterer verlangt. Insoweit besteht weitgehend Einigkeit, dass Angst vor Schmerz zu Unterwerfung unter gesellschaftliche Gebote führt, aber der Bedrohte hat ja deshalb kein schlechtes Gewissen. Im Gegenteil, der Sohn, der aufgrund der väterlichen Kastrationsdrohung auf Onanie oder den Wunsch nach Besitz der Mutter verzichtet, erlebt Lustgefühl weiterhin als etwas Angenehmes und nicht als etwas Schlechtes, es sei denn, es handelt sich um eine moralisierende Erziehung, die angenehme Gefühle als Sünde definiert. Derartige Verbote und moralische Verknüpfungen sind jedoch widernatürlich und erzeugen im Kind Aggressionen, Hassgefühle und Todeswünsche auf den, der für so lustvolle Erlebnisse Strafe androht. Nach der hier von mir vorgestellten Theorie sind Schuldgefühle eine natürliche Folge von Tötungshandlungen an Mitmenschen. In Übereinstimmung mit der Psychoanalyse nehme auch ich an, dass das Unbewusste nun keinen Unterschied macht, ob ein Mord bereits tatsächlich oder nur in der Phantasie begangen wurde. Die von mir postulierte physiologische Schuldreaktion kann also bereits auftreten, wenn das Unbewusste des Kindes den Mord am Vater als phantasierte Wunscherfüllung begangen hat und nicht erst nach Realisierung der Tat. Das Schuldgefühl tritt also als Reaktion auf die Mordwünsche gegen den Aggressor auf, der Lust mit Kastration zu bestrafen droht.

Aber dieses physiologische Schuldgefühl tritt auch beim Erwachsenen auf, der tatsächlich einen Menschen getötet hat. Und dies ist völlig unabhängig von einer Strafandrohung. Ob das Strafrecht diese Tötung als Mord bewertet oder Folge einer kleinen Unachtsamkeit im Straßenverkehr (zu schnelles Fahren, wobei ein Mensch totgefahren wurde), ist für diese physiologische Schuldreaktion kein Maßstab. So kenne ich auch einen Unternehmer, die einen anderen Menschen im Straßenverkehr getötet und dessen Ehefrau schwer verletzt hat ohne dafür bestraft zu werden. Seitdem leidet er an Schuldgefühl, depressiver Verstimmung, Suizidimpulsen bis zum erweiterten Suizid (Selbstmord unter Mitnahme seiner Kinder) und Angst, umgebracht zu werden. Inzwischen ist er berufsunfähig und bezieht Rente. Die bewusstseinsnahe Abwehr von Schuldgefühlen durch Schuldprojektion (der Kriegsgener oder der Unfallgegner hat Schuld) ändert nichts an der inneren Dynamik der biologisch verankerten Schuldreaktion (schlechtes Gewissen, Selbstvorwürfe, Projektion andere, die ihm Vorwürfe machen könnten, so dass Angst vor Überfällen auftritt, wie in diesem Fall).

6. Aktuelle Implikationen

Nach meiner Hypothese leidet der Mensch, der anderen Schmerz zufügt, zum Beispiel durch Anwendung von Folter, an derartigen seelischen "Schmerzen", während das Opfer relativ kurzfristigen körperlichen Schmerz empfindet. Wird die Tötung vollendet, wird der Täter dauerhaft von schlechtem Gewissen und Schuldgefühlen geplagt ("verfolgt"). Dies ist offensichtlich ein genetisch determinierter Talionsgrundsatz. Selbst der moderne "Friedenseinsatz", bei dem Massentötungen als "Kollateralschaden" verniedlicht werden, kann die seelische Problematik des tötenden Individuums tatsächlich nicht beseitigen. Was an einem drastischen Fall des Bürgerkriegs exemplarisch gezeigt wird, kann auch für deutsche Soldaten, die inzwischen an vielen Orten der Welt eingesetzt werden, jederzeit real werden. Auch hier kann im Fall einer Tötung, besonders der Tötung eines Kindes oder einer Frau (eines "Zivilisten"), eine – wenn auch mildere – physiologische Schuldreaktion erwartet werden. Und dies beim primär psychisch gesunden Soldaten. Definitionen von Politikern, die beispielsweise den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan nicht als Kriegseinsatz bezeichnen wollen, spielen für die Psyche des betroffenen Soldaten gar keine Rolle.

Rudi Zimmerman im Juli 2009

Literatur:

Hobbes, Thomas: Leviathan. Der Urzustand des Menschen. 1651.

Morgan, Lewis H.: Die Urgesellschaft. Untersuchungen über den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barberei zur Zivilisation.  Dietz. Stuttgart Berlin. 1891 (Original 1877)

Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Dietz Verlag Berlin. 1970. (Original 1884)

Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Goldmann-Taschenbuch. 1983. ISBN 3442075564. (Original 1887)

Ostwald, Wilhelm: Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaften (Philosophisch-soziologische Bücherei, Band XVI). Verlag von Dr. Werner Klinkhardt. Leipzig. 1909.

Freud, Sigmund: Totem und Tabu. In: Studienausgabe Band IX, Seite 288 bis 444, S. Fischer Verlag GmbH. Frankfurt am Main. ISBN 3108227092. Original 1912-1913.

Freud, Sigmund: Das ökonomische Problem des Masochismus. Studienausgabe Band III. 1975. ISBN 3108227033. Seite 339 ff. (Original 1924)

Reik, Theodor: Geständniszwag und Strafbedürfnis. In: Psychoanalyse und Justiz. Herausgegeben von Tilmann Moser. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main. 1971. (Original 1925)

Alexander, Franz und Staub, Hugo: Der Verbrecher und sein Richter. Ein psychoanalytischer Einblick in die Welt der Paragraphen. In: Psychoanalyse und Justiz. Herausgegeben von Tilmann Moser. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main. 1971. (Original 1928)

Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 1. und 2. Band. suhrkamp. Frankfurt am Main. 1976.

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